Gedankensplitter

Wenn Gabriela lacht

Von außen sieht der Schrank gar nicht groß genug aus für die Menge an Handtaschen, die Gabriela daraus hervor geholt hat. Sie sitzt im Schneidersitz, öffnet die Taschen und findet darin wieder neue, als wäre dies ein Zaubertrick. Jede Farbe, jede Form, jedes Material. Einige sind noch originalverpackt.
Bei jedem anderen Menschen würde mich das wahnsinnig machen. Dieser Überfluss. Bei jedem, nur nicht bei Gabriela, weil sie darüber so lacht, wie nur sie es kann. Sie zuckt hilflos mit den Achseln, blinzelt in meine Richtung und lacht ihr Gabrielalachen, was im Moment bedeutet: Sieh nur wie viele Taschen ich besitze. Ist das nicht irre?
Sie beteuert, dass sie den Hut gleich finden wird und dass wir noch Zeit haben, bis mein Bus fährt. Auch das ist Gabriela: Die Abwesenheit von Zeitgefühl. Oder zumindest dem Zeitgefühl, wie ich es besitze. Mit ihr zusammen vergeht die Zeit irgendwie schneller, dreht sich die Welt anders. Mit ihr ist es immer, als säße man in einem Karussell. Die Menge verschwimmt und nur sie bleibt. Sie und das Kribbeln im Bauch.
Ich hätte sie früher nach dem Hut fragen sollen.
Dabei hatte der Hut am Anfang eigentlich gar nichts mit Gabriela zu tun. Na jedenfalls fast nichts, nur ganz am Rand vielleicht. Ich kaufte ihn in Jaiselmer, der goldenen Stadt, deren Häuser so aussehen, als wären sie aus Staub gemacht, der in der Sonne glänzt. Einer immerwährenden Sonne deren Hitze über trockene Sandstraßen flimmert. Auch das riesige Fort sieht wie eine Sandburg für Erwachsene aus. Ich presse meine Hand auf einen der aufgemalten Handabdrücke an der Fortmauer. Meine Finger sind länger. Die Witwen der Maharadja haben die Abdrücke dort hinterlassen, bevor sie bei lebendigem Leib mit ihren Gatten verbrannt worden sind.
Ich schlendere durch die Stadt, die einem einzigen Basar gleicht. Sie ist so lebendig, wie es jeder Ort am Rande der Stille ist, dort, am letzten Anlaufpunkt für Menschen, bevor die Wüste beginnt. Viele Händler reden auf mich ein, sehen in mir die weiße Touristin, die ihre überteuerten Waren kaufen könnte. Es wird schwer werden, hier einen anständigen Preis auszuhandeln, aber für den Kamelritt durch die Wüste brauche ich noch einiges. Auch einen Hut.
Als ich einen Tag später auf dem Kamel sitze, die Sonne im Zenit und weit und breit nichts weiter als unserer Karawane, da gehört der Hut bereits zu mir. Er ist aus braunem Kamelleder, wirft Schatten auf mein Gesicht und scheint von jeher dafür gemacht worden zu sein.
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Das ist meine Abschiedstour. Abschied von meinen neuen Freunden, die ich in den letzten Monaten in Indien gewann. Auch meine brasilianische Freundin Gabriela ist unter den circa zwanzig Leuten aus aller Herrenländer dabei. Natürlich, schließlich wohnten wir die letzten Wochen zusammen, haben uns nachts in den Schlaf geredet, aber ich verbringe kaum Zeit mit ihr. Ich verbringe kaum Zeit mit überhaupt jemandem. Die Wüste macht mich nicht gesellig und die Erinnerungen der letzten Monaten stürzen über mich herein, farbenfroh und vielseitig, während mir die Vorstellung von meinem Leben in Deutschland, das Mitte Februar dort wieder einsetzen soll, nur in Schwarzweiß gelingt. Nachts stehle ich mich davon, über zwei drei Dünen, setze mich in den kalten Sand und starre lange auf den Himmel, der ohne Lichtverschmutzung voller Sterne hängt. Die Stimmen der anderen wehen in Fetzen zu mir herüber und als Gabriela lacht, ist es das erste Mal, dass mich das traurig macht.
Die Sterne stehen hier anders, als hätte eine Übermacht sie durcheinander gewürfelt. Natürlich kann ich mir auch den deutschen Sternenhimmel nicht genau ins Gedächtnis rufen, aber unbewusst habe ich mir die Anordnung der Gestirne, wie ich sie jahrelang immer wieder wahrgenommen habe, eingeprägt. Nun steht der große Wagen auf dem Kopf, der Mond ist um 90° gedreht und auch die restlichen Lichter sind verrückt. In Indien ist einfach alles anders, sogar der Himmel. Und ich. Über Deutschland stehen die Sterne wieder so, wie ich sie ein Vierteljahrhundert lang wahrnahm. Aber ich bin immer noch anders.

Als Gabriela mich anruft und mir sagte, dass sie gerade für zwei Tage in Aachen sei, bin ich genauso enttäuscht wie sie, dass ich sie nicht treffen kann. Aber ganz egal wie oft ich es im Kopf durchspiele, ich habe weder genügend Zeit noch Geld, um so spontan ans andere Ende Deutschlands zu reisen. Sie beharrt darauf, dass wir uns sehen müssen, schließlich habe sie noch meinen Hut. Als sei dies das ausschlaggebende Argument, als erteile mir die potentielle Hutübergabe die Absolution, sämtliche Verpflichtungen auf der Stelle vernachlässigen zu dürfen. Für einen kurzen Moment scheint es mir sogar plausibel. Ein ganzes Gabrielalachen lang. Dann verspreche ich ihr, dass wir uns eines Tages treffen werden, damit sie mir den Hut wiedergeben könne. Ich kann an ihrer Stimme hören, dass sie nun beruhigt ist. Ich weiß, dass sie jetzt wie ein kleines Kind kurz vorm Einschlafen aussieht, das erst die Augen schließen konnte, nachdem es das Versprechen abnahm, nächsten Tag weiterspielen zu dürfen.
So reiste mein Hut durch Europa und ab und an bekam ich ein Lebenszeichen von Gabriela, wo und wann ich mir den Hut von ihr holen könnte. Nächste Woche sei sie in Paris, bald in London. Wir wussten beide längst, dass sie den Hut mit nach Brasilien nehmen würde.

Ich erinnere mich nicht daran, wann mir bewusst wurde, dass der Hut noch immer in Gabrielas indischem Appartement lag, dafür habe ich ihre Wohnung noch in allen Einzelheiten vor mir: Eine vollständig eingerichtete Wohnung in einem mehrstöckigen Gebäude samt auf dem Sofa schlafendem Bediensteten. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass eine derartig luxeriöse Wohnung in Jaipur überhaupt existierte.
Jaipur, das heißt für mich Termiten im Bad, Mäuse im Schlafzimmer und Kakerlaken in der Küche. Elektrischen Strom gibt es nur zu bestimmten Zeiten und warmes Wasser gibt es gar nicht, was wunderbar mit der Abwesenheit von isolierten Wänden, verschließbaren Fenstern und Heizungen harmoniert, welche ich bei nächtlichen Nullgrad schmerzlich vermisse. Morgens stoße ich sichtbare Atemwölkchen aus, schaue ihnen beim Auflösen zu und hüpfte im Schlafsack zum Badezimmer, wo ich feststelle, dass Gabriela meine Zahnbürste geklaut hat. Sie nutzt sie als Druckmittel, damit ich mir von ihr Samba beibringen lasse. Wir haben kein Gerät zum Musikabspielen, also singt sie Lieder für uns und wir tanzen. Wie jeden Morgen wird sie zu spät zur Arbeit kommen und ihre Lunchbox vergessen, obwohl sie sich an der Tür noch einmal umdreht, um ihre Jacke oder Sonnenbrille oder ihr Telefon, oder was immer sie sonst noch vergessen hat, zu holen. Sobald sie das Haus verlassen hat, ist es still. Dann krieche ich zurück in meinen Schlafsack und esse ihr vergessenes Mittag zum Frühstück.
Erst als ich die Stadt verlasse, sucht sie sich eine neue Wohnung und findet das Appartement, das besser zu ihr passt. Nur sie besitzt die Fähigkeit eine derartige Wohnung in Jaipur auszumachen, so ganz unindisch, sogar mit richtigen Matratzen auf den Betten.
Das passte überhaupt nicht zu meinem Indien. Wenn ich genauer darüber nachdenke, war es eigentlich Gabriela, die nicht nach Indien passte.
Gabriela, die sich vom scharfen Essen erbricht, wegen der Rückenschmerzen auf den harten Betten weint und einfach nicht einsieht, dass sie weder Schultern noch Knie zeigen darf. Die temperamentvolle Brasilianerin, die mich immer wieder fragt, warum sie ihren hinduistischen Bekannten nicht küssen soll, obwohl sie doch gerne wüsste, wie er küsst und sich schließlich als Kompromiss für einen Mexikaner und einen Polen entscheidet. Gabriela, die aus Frust mit der Kreditkarte ihrer Mutter shoppen geht, um eben dieser ihre kostspieligen Geburtstagsgeschenke in klimatisierten und überteuerten Geschäften zu kaufen. Gabriela, die auch als Frau auf offener Straße das eklige, indische Bier aus Flaschen trinkt und dazu Zigaretten raucht.
Mit Gabriela gröle ich schlechte, englische Popsongs in Rikschas während der Fahrtwind unsere Haare durcheinander bläst. Auf ihrer ersten Party springt sie auf die Bühne und transportiert die dortige Tänzerin mit einem gezielten Hüftschwung hinter die Lautsprecherboxen, zieht mich zu sich herauf und beweist im Scheinwerferlicht ihr brasilianisches Rhythmusgefühl, das ich leider nicht habe. Immer wird sie erst nachts richtig wach, könnte aber den ganzen Tag schlafen. Den ersten Tag ihres Praktikums schwänzt sie, weil sie den Weg nicht finden kann und von da an kommt sie nicht einen Tag pünktlich. Zuerst überredet sie ihren Chef, einen Kühlschrank für sie anzuschaffen, dann darf sie die gesamten Büroräume nach ihrer Vorstellung umgestalten.
Gabriela ist die einzige, die unser Freund Supreet ans Steuer seines Autos lässt. Nicht einmal seine Freundin darf das. Leicht angetrunken, mit laut aufgedrehtem Radio fährt Gabriela nachts im Zickzack durch Jaipur, wo es nach Sonnenuntergang so ausgestorben wie in jeder rajasthanischen Stadt aussieht. Vorbei an heruntergelassenen Rollläden und kläffenden Hunden bringt sie ihre Freunde im überbesetzten Auto nach Hause. Wir beide sind immer die Letzten. Nimmt sie eine Rikscha, dann feilscht sie die Preise hart aus und geht lieber zu Fuß, als sich auf einen schlechten Deal einzulassen. Das habe sie von mir gelernt, behauptet sie.
Sie erzählt meinem Schwarm, ich habe über 40° Fieber und als er mich ganz besorgt aufsucht, muss ich so tun, als sei ich krank. Einmal ruft sie unsere Chefs an und erzählt ihnen, wir hätten Durchfall, denn sie will unbedingt mit mir auf den Basar, damit ich ihr beim Feilschen um schöne Stofftücher helfe. Immer wieder wundere ich mich, warum Gott soviel Leben in einen einzigen Menschen gepackt hat, obwohl das locker für zwei gereicht hätte.

Handtaschen sind es sogar genug für mehr als zwei, fast für einen kleinen Laden. Plötzlich hält sie etwas, das nur noch entfernt an meinen Hut erinnert, in den Händen. Er ist zerknautscht, verstaubt und fleckig. Mein Seufzer geht lückenlos in ein Lachen über, nachdem ich Gabriela begeistert übers ganze Gesicht strahlen sehe. Nun ist sie nicht mehr aufzuhalten, rast an mir vorbei und flitzt samt Hut auf den Hof. Ich folge ihr, renne in eine Wand aus Hitze und beobachte Gabriela dabei, wie sie unter der brennenden Sonne Brasiliens den Hut mit einem Tuch und Wasser aus dem Gartenschlauch reinigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht gut für das Leder ist, aber was auch immer Gabriela nun mit dem Hut anstellt, wird mich an sie erinnern. Doch sie bekommt ihn wieder hin, setzt ihn mir auf und holt sich einen Hut, den sie sich irgendwo in Südeuropa gekauft hat, dazu. Wir machen ein Hutfoto, dann fährt sie mich zum Busbahnhof. Wir müssen rasen.
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Wieder in Deutschland bestaune ich meine braune Haut auf dem Abzug und die Möglichkeit, dass im selben Augenblick anderswo Tage nach Sonnenmilch riechen können, während im deutschen November der kalte Wind das Sonnenlicht weggeweht hat. Sorgfältig klebe ich die Erinnerungen an meinen Brasilienurlaub in ein Fotoalbum. Sie sind schön. Weiße Sandstrände, blaues Wasser und grüne Palmen.
Gabriela, die mir schreiend am Bahnhof um den Hals fällt und dann wie ein Mantra wiederholt, dass sie es nicht glauben könne, dass ich da sei. Sie schmeißt eine Party für mich und ich lerne ihre Freunde kennen. Sie bringen mir Billard bei, nehmen mich zum Paragliden mit und wir fahren gemeinsam an den Strand. Wir sind sorgenfrei, tanzen nachts und schlafen tags. Sie zeigt mir alle Ecken, die ihr wichtig sind und ich sehe, rieche, fühle und schmecke ihr Leben. Sie lacht ihr Gabrielalachen und erzählt mir die verrücktesten Geschichten, die sie in den vergangenen anderthalb Jahren angestellt hat. Ich bringe ihr bei, „Hau Rein!“ auf deutsch zu sagen und sie stellt sicher, dass ich Sambatanzen nicht verlernte. Es ist schön, bis ihre Eltern aus dem Urlaub kommen.
Wenn sie jetzt lacht, klingt es anders. Ihre Freunde kommen uns nicht mehr besuchen, denn das wollen ihre Eltern nicht. Gabriela darf nicht mit mir reisen, nicht einmal in ihre ehemaligen Studienstadt Curitiba, wo sie bereits jahrelang gelebt hat. Genauso wenig wie sie wieder wegziehen oder einen Mann über Nacht mit nach Hause bringen darf. Sie muss früh aufstehen, den Haushalt führen und ihren kleinen Bruder fahren. Ich verstehe jetzt, warum sie manchmal für zwei lebt. Sie wird wieder so krank, wie sie es bei ihrer Ankunft in Indien war. Ich mache mir Sorgen und rede auf sie ein, sie solle zum Arzt gehen, bevor ich abreisen muss. Der Arzt sagt, sie sei von Natur aus depressiv und verschreibt ihr Stimmungsaufheller. Ich sitze in Deutschland, lese das in meiner Mail und heule vor Wut.
Ich schreibe ihr täglich, sie solle eine zweite Meinung einholen. Solange bis sie dies tut und mir kurz darauf schreibt, sie habe etwas wirklich Ernstes, das nie wieder weg ginge, aber woran sie nicht sterben werde und wofür es Medikamente gäbe. Dann schreibt sie nichts mehr, reagiert auch nicht mehr auf meine Post.
Irgendwann wird Gabi mich anrufen, ins Telefon lachen und mich fragen, was der Hut macht. Das weiß ich. Bis dahin trage ich ihn ab und zu in meiner Wohnung, blättere das Album durch und vergleiche ab und an die Flugpreise nach Brasilien.
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