Indien 2005/2006
I-India
Als Kind glaubte ich, dass es überall auf der Welt so aussehe wie zu Hause. Die DDR war auch nicht sehr bemüht daran, an diesem Glauben von mir etwas zu ändern. Aber ich hatte eine Tante, die hatte die Welt bereist, besonders lange in Afrika gelebt und wundersame Dinge aus fernen Ländern mitgebracht. Dinge wie Riesenmuscheln, in denen das Rauschen eines fremden Meeres zu hören war oder die meterlange Haut einer Schlange, die für meine kleine Schwester und mich als purer Inbegriff von Abenteuer stand. Meine Tante sammelte nicht nur Märchen aus aller Welt, sondern nannte auch eine beachtliche Auswahl an Bildbänden ihr eigen. Eines dieser Bücher faszinierte mich so sehr, dass daraus eine bisher lebenslange Sehnsucht erwuchs: Indien. Doch erst Jahre später im Winter 2005 erlebte ich mein eigenes fünfmonatiges Abenteuer in diesem aufregenden Land der Gegensätze.
Obwohl Indien sämtliche Klischees bedient, die einem dazu im Kopf herum spuken, ist es völlig anders als erwartet. Man kann sich darauf nicht vorbereiten. Sicherlich: Ich war geimpft, (was mich jedoch nicht daran hinderte, später an Malaria zu erkranken,) hatte Medikamente gegen Durchfall und ein Moskitonetz dabei und vorab sämtliche Informationen zu Indien verschlungen, die ich hatte bekommen können – und das über Jahre hinweg. Trotzdem war ich nicht vorbereitet gewesen auf die Hitzemauer, in die ich bei meiner Ankunft rannte – wie viel Schweiß kann Jeansstoff aufnehmen – oder auf den stetigen Lärmpegel auf den Straßen indischer Städte, wo es Totalschaden bedeutet, wenn die Hupe nicht funktioniert. Aufnahmen von Indien zeigen zwar das, was da ist, aber die Realität fühlt sich trotzdem anders an, weil sie heiß und laut ist. Und weil sie stinkt. Der Gestank des in der gnadenlosen Sonne gärenden Mülls, der überall herum liegt, vermischt sich mit den Gerüchen des Essens von Straßenverkäufen, von indischen Gewürzen und gekrönt wird dieser unbeschreiblich intensive Geruch mit einer Brise heiligen Kuhdungs. Was auch immer ich Weiteres von meinen unzähligen Erlebnissen berichten werde, diese drei Dinge: Hitze, Lärm und Gestank müssen wir uns immer dazu denken. Das sind die drei Grundzutaten für ein echtes indisches Chutney, wie ich es uns gern servieren möchte. Am liebsten würde ich diese drei Begriffe immer wieder zwischen die Zeilen schreiben, damit wir beim Lesen permanent mit den Augen darauf stießen, so wie diese stetig meine Sinneswahrnehmung beeinträchtigten.
Meine Reise führte mich zunächst nach Rajasthan, im Nordwesten Indiens gelegen. Dort habe ich soviel erlebt, dass ich mir ganz unsicher bin, wonach mir der Sinn steht. Wir könnten gemeinsam auf einer hinduistischen Hochzeit tanzen, an einem verfluchten Ort in einem alten Tempel aus Schutz vor den Affen picknicken oder über den weltgrößten Kamelmarkt schlendern. Ich habe die farbenprächtigsten Basare besucht, Wasserpaläste besichtigt, mit Schlitzohren gefeilscht und mich an das scharfe, aber köstliche Essen gewöhnt. Als einen Höhepunkt habe ich eine Rikschafahrt in Erinnerung, bei der ich die überladene Motorradrikscha selbst durch den mörderischen Linksverkehr – Gastgeschenk der Briten – fahren durfte. Was öffentliche Verkehrsmittel betrifft, so könnte ich diesen - und ganz besonders dem Auf- und Abspringen von bereits fahrenden - ganze Romane widmen, die an Länge den kilometerlangen Zügen in nichts nachstehen würden. Vielleicht sollten wir barfuß den Rattentempel besichtigen, wo uns die reudigen Nager über die Füße laufen oder den orgiastischen Farbstrudel eines Films aus Bollywoods Traumfabrik in einem echten indischen Kino auf uns wirken lassen. Mein Aufenthalt in Indien scheint mir rückblickend wie einer der vielen Läden für Armreifen. Diese gibt es in allen Farben und Formen: dick, dünn, einfarbig, bunt, mit Steinchen, mit Spiegeln und aus verschiedenen Materialien. Meine Reise war abwechslungsreich, farbenfroh, glitzernd und oftmals auch abstoßend hässlich. Das Schöne und das Schockierende hat sich immer die Waage gehalten. Nachdem ich nun länger wieder zurück in Deutschland bin, als ich insgesamt in Indien war, weiß ich, was mich am nachhaltigsten beeindruckt hat: meine Arbeit dort.
Vier Monate lang machte ich ein Praktikum bei der Hilfsorganisation I-India in Jaipur. Entwicklungshilfe ist ein Wort, das jedem geläufig und doch gleichzeitig so schwammig ist, das sich Niemand etwas Exaktes darunter vorstellen kann. So betrat ich dann auch mit einem etwas mulmigen Gefühl der Ungewissheit wegen das Büro meines Arbeitgebers, Prabhakar Goshwami. Ich wusste bereits, dass er in den Slums aufgewachsen, sich hochgearbeitet und schließlich gemeinsam mit seiner Frau Abha, die selbst Waise war, die Organisation gegründet hatte. Doch nach einem herzlichen Empfang und dem ersten gemeinsamen Chai hatte sich der Großteil meiner Skepsis gelegt. Prabhakar und ich kamen darin überein, dass ich zunächst sämtliche Projekte I-Indias unter die Lupe nehmen würde, bevor ich mich für das für mich am geeignetste entschiede. Also lernte ich das Büro von Childline kennen, einer Art kostenfreier Telefonseelsorge für Kinder, die dort im Schnitt bis zu siebzig mal am Tag anrufen. Dort melden sie sich nicht nur, wenn sie Kummer haben, sondern häufig, wenn sie im Straßenverkehr verletzt worden sind und sich nun die Arztkosten nicht leisten können. Dann stellt ihnen I-India Medikamente und Blut, oder was sonst noch anfällt. Auch die Polizei nutzt die Rufnummer, um Kinder zu suchen oder Waisen zu vermitteln. Obwohl ich das Projekt sehr sinnvoll finde, konnte ich dort aufgrund meines schlechten Hindi leider nicht nützlich sein.
Damals gab es bereits zwei der vier Waisenhäuser I-Indias, in denen Waisen, Kinder mittelloser Eltern sowie leider viel zuviel missbrauchte, verkaufte und verheiratete Kinder ein neues Zuhause gefunden haben. Obwohl es mich bereits sehr reizte, mit diesen Kindern zu arbeiten, was ich später auch hauptsächlich tat, sah ich mir auch noch das Projekt der Schule auf Rädern an. Getreu dem Motto wenn die Kinder nicht zur Bildung kommen, kommt die Bildung eben zu den Kindern, fahren täglich zwei Schulbusse der Organisation durch die Armenviertel, halten an verschiedenen Punkten und unterrichten die dort lebenden Kinder. Der erste Tag, den ich mit diesem Bus mitfuhr, werde ich nie vergessen.
Es war heiß, wie immer und ich schwankte, ob ich mir mehr Sorgen um meine Wasserration oder um die Beschaffenheit des Busses, bei dessem Anblick jeder deutsche TÜV-Prüfer einen Herzinfarkt erlitten hätte, machen sollte. Der Busfahrer schien ein mürrischer Mann zu sein, der kein Wort Englisch verstand und der wegen mir einen zusätzlichen Weg zu fahren hatte, sprich früher aufstehen musste und später nach Hause kam. Weit freundlicher empfingen mich die zwei indischen Ladys des Busses, die Lehrerinnen, die ihr pädagogisches Geschick sofort demonstrierten, indem sie mich meinen Namen auf Hindi schreiben ließen. So ratterte der Bus dahin, durch immer gleich aussehende, belebte Straßen mit vielen Ständen, Straßengeschäften und Teestuben. Genau wie in diesen bunten Bilderbüchern für Kinder, auf denen auf einer Seite wirklich auf jede Stelle etwas abgebildet ist, so dass die Kinder sich ewig damit aufhalten können, neue Dinge zu entdecken. So ist Indien. Alles passiert auf einmal zur gleichen Zeit am selben Ort. Anfangs sind abends die Augen von der Reizüberflutung so müde, dass man sie kaum offen halten kann. Es gab also viel zu sehen und ich merkte erst, dass wir an unserem ersten Haltepunkt angekommen waren, als der Bus bereits stand.
Plötzlich rannten Kinder aus allen Himmelsrichtungen auf den Bus zu. Sie kamen von überall her, krochen scheinbar aus dem Nichts hervor. Es waren so viele und ich konnte nicht schnell genug gucken, um auszumachen, woher sie wirklich kamen. Mich erinnerte das an die Verfilmung von Erich Kästners „Emil und die Detektive“, nur dass diese Kinder etwas anders aussahen. Sie waren alle dunkelhäutig, hatten diese wunderschönen erdbraunen Augen und ein in Marmor gemeißeltes Lächeln. Obwohl ihre Haare teilweise sehr staubig und verfilzt waren, konnte ich erkennen, wie stark und seidig es von Natur aus war. Ihre Kleidung war, wenn vorhanden, dann dreckig und zerschlissen. Keine Schuhe. Nichts passte wirklich und alles war irgendwo notdürftig ausgebessert. Auch die Haut der Kinder war dreckig, die Nasen rotzig und der Gestank mal wieder Atem verschlagend. Im Schlepptau der Kinder befand sich ein schwarzes Meer nerviger Fliegen, welche es sich auf dem Schmutz gemütlich machten und die Kinder selbst dann nicht mehr stören konnten, wenn sie ihnen auf der Nase rumtanzten. Mich machten sie wahnsinnig.
Die Kinder waren im Schnitt schätzungsweise sechs Jahre alt. Viele Mädchen hatten Geschwister dabei, die noch Säuglinge waren.
Sekunden später hatten die Kinder den Bus erobert. Sie saßen und standen, wo es nur ging, und auch da, wo es eigentlich nicht ging. Ich hatte mindestens drei auf meinem Schoß, als der Bus sich wieder in Bewegung setzte. Er hielt nur ein paar hundert Meter weiter, so dass die Kinder eigentlich auch zu Fuß hätten laufen können. Aber die Fahrt im Bus war für sie etwas ganz besonderes, etwas, wozu sie sonst nie die Möglichkeit hatten. Und der mürrische Fahrer, der mir plötzlich viel netter erschien, wusste das. Nun wurden Schiefertafeln heraus gekramt und an die regelmäßig erscheinenden Schüler kleine Übungshefte verteilt. Es galt schreiben und lesen zu lernen. Buchstabe für Buchstabe. An diesem Tag brachte ich einigen Kindern die englischen Buchstaben B und G bei. B und G – mein Geschenk an die Welt? Ein Millionstel des Tropfens auf den heißen Stein! Nach einer guten Stunde, einer Portion Reis und Medizin für alle und natürlich einigen fröhlichen Abschiedsliedern später, fuhren wir weiter zum nächsten Haltepunkt.
So entfernten wir uns immer mehr vom Zentrum der Stadt, in der große Mauern die Armenviertel vor den Augen der restlichen Bevölkerung verbergen. Aus den Augen aus dem Sinn scheint auch in Indien zu funktionieren. Darum wurde auch ein Großteil der Slums vor die Grenzen der Stadt ausgelagert. So sind die Zeltslums entstanden, denen es nicht nur an Anbindung, medizinischen Einrichtungen oder Geschäften mangelt, sondern in denen es keine Wasseranschlüsse gibt! Die dort lebenden Menschen sind darauf angewiesen, dass ihnen Hilfsorganisationen wie I-India den lebensnotwendigen Stoff bringen. Das Wasser wird selten zum Waschen verwendet, dafür ist es zu kostbar. Längst hat der Wüstensand sich in jede mögliche Ritze gedrängelt, hat der Staub jede Stofffaser, jede Pore eingenommen. Die Kinder sind viel dreckiger, die Haare sandig und auf der Haut sind oft Ekzeme zu sehen. Ich sehe wie eine kleine, schwarze Fliege auf einem solchen Ekzem eines Mädchens, mit einem bildschönen Gesicht, herum krabbelt, hinein kriecht und nicht mehr hinauskommt.
Als der Containerwagen mit dem Wasser kommt, rennen die Menschen mit dreckigen Behältern aller Formen dorthin. Die I-India-Mitarbeiter verteilen das Wasser mit einem Schlauch und die Kinder tanzen in den daneben fallenden Tropfen. Regen in der Wüste. Die Freude ist groß. Der Container kommt nicht täglich, die Menschen müssen sich das Wasser gut einteilen. Ein Europäer verbraucht im Durchschnitt 172 Liter Trinkwasser pro Tag – durch die Klospülung.
Das war mein erster Arbeitstag in den Slums mit diesen unglaublich fröhlichen Kindern. Als ich dann ziemlich k.o. kurz vor meiner Haustür um die Ecke bog, konnte ich den Müllhaufen schon riechen, bevor ich ihn sah. Es dämmerte gerade, aber den ganzen Tag hatte die Sonne erbarmungslos auf dieses Konglomerat von Blütenblättern, Essensresten, Kuhmist und Fäkalien geschienen. Der Gestank war unglaublich. In der Mitte stand ein kleiner vielleicht achtjähriger Junge, fast nackt in zerschlissener Hose, der den Berg durchsuchte. Schließlich fand er ein verschimmeltes Stückchen indischen Brotes – die Freude auf seinem Gesicht, der Unglaube etwas Essbares in der Hand zu halten und schließlich wie er davon abbeißt, während ich wegen des Gestanks noch gegen meinen Brechreiz kämpfe. Nie werde ich dieses Bild vergessen.
Als Kind glaubte ich, dass es überall auf der Welt so aussehe wie zu Hause. Die DDR war auch nicht sehr bemüht daran, an diesem Glauben von mir etwas zu ändern. Aber ich hatte eine Tante, die hatte die Welt bereist, besonders lange in Afrika gelebt und wundersame Dinge aus fernen Ländern mitgebracht. Dinge wie Riesenmuscheln, in denen das Rauschen eines fremden Meeres zu hören war oder die meterlange Haut einer Schlange, die für meine kleine Schwester und mich als purer Inbegriff von Abenteuer stand. Meine Tante sammelte nicht nur Märchen aus aller Welt, sondern nannte auch eine beachtliche Auswahl an Bildbänden ihr eigen. Eines dieser Bücher faszinierte mich so sehr, dass daraus eine bisher lebenslange Sehnsucht erwuchs: Indien. Doch erst Jahre später im Winter 2005 erlebte ich mein eigenes fünfmonatiges Abenteuer in diesem aufregenden Land der Gegensätze.
Obwohl Indien sämtliche Klischees bedient, die einem dazu im Kopf herum spuken, ist es völlig anders als erwartet. Man kann sich darauf nicht vorbereiten. Sicherlich: Ich war geimpft, (was mich jedoch nicht daran hinderte, später an Malaria zu erkranken,) hatte Medikamente gegen Durchfall und ein Moskitonetz dabei und vorab sämtliche Informationen zu Indien verschlungen, die ich hatte bekommen können – und das über Jahre hinweg. Trotzdem war ich nicht vorbereitet gewesen auf die Hitzemauer, in die ich bei meiner Ankunft rannte – wie viel Schweiß kann Jeansstoff aufnehmen – oder auf den stetigen Lärmpegel auf den Straßen indischer Städte, wo es Totalschaden bedeutet, wenn die Hupe nicht funktioniert. Aufnahmen von Indien zeigen zwar das, was da ist, aber die Realität fühlt sich trotzdem anders an, weil sie heiß und laut ist. Und weil sie stinkt. Der Gestank des in der gnadenlosen Sonne gärenden Mülls, der überall herum liegt, vermischt sich mit den Gerüchen des Essens von Straßenverkäufen, von indischen Gewürzen und gekrönt wird dieser unbeschreiblich intensive Geruch mit einer Brise heiligen Kuhdungs. Was auch immer ich Weiteres von meinen unzähligen Erlebnissen berichten werde, diese drei Dinge: Hitze, Lärm und Gestank müssen wir uns immer dazu denken. Das sind die drei Grundzutaten für ein echtes indisches Chutney, wie ich es uns gern servieren möchte. Am liebsten würde ich diese drei Begriffe immer wieder zwischen die Zeilen schreiben, damit wir beim Lesen permanent mit den Augen darauf stießen, so wie diese stetig meine Sinneswahrnehmung beeinträchtigten.
Meine Reise führte mich zunächst nach Rajasthan, im Nordwesten Indiens gelegen. Dort habe ich soviel erlebt, dass ich mir ganz unsicher bin, wonach mir der Sinn steht. Wir könnten gemeinsam auf einer hinduistischen Hochzeit tanzen, an einem verfluchten Ort in einem alten Tempel aus Schutz vor den Affen picknicken oder über den weltgrößten Kamelmarkt schlendern. Ich habe die farbenprächtigsten Basare besucht, Wasserpaläste besichtigt, mit Schlitzohren gefeilscht und mich an das scharfe, aber köstliche Essen gewöhnt. Als einen Höhepunkt habe ich eine Rikschafahrt in Erinnerung, bei der ich die überladene Motorradrikscha selbst durch den mörderischen Linksverkehr – Gastgeschenk der Briten – fahren durfte. Was öffentliche Verkehrsmittel betrifft, so könnte ich diesen - und ganz besonders dem Auf- und Abspringen von bereits fahrenden - ganze Romane widmen, die an Länge den kilometerlangen Zügen in nichts nachstehen würden. Vielleicht sollten wir barfuß den Rattentempel besichtigen, wo uns die reudigen Nager über die Füße laufen oder den orgiastischen Farbstrudel eines Films aus Bollywoods Traumfabrik in einem echten indischen Kino auf uns wirken lassen. Mein Aufenthalt in Indien scheint mir rückblickend wie einer der vielen Läden für Armreifen. Diese gibt es in allen Farben und Formen: dick, dünn, einfarbig, bunt, mit Steinchen, mit Spiegeln und aus verschiedenen Materialien. Meine Reise war abwechslungsreich, farbenfroh, glitzernd und oftmals auch abstoßend hässlich. Das Schöne und das Schockierende hat sich immer die Waage gehalten. Nachdem ich nun länger wieder zurück in Deutschland bin, als ich insgesamt in Indien war, weiß ich, was mich am nachhaltigsten beeindruckt hat: meine Arbeit dort.
Vier Monate lang machte ich ein Praktikum bei der Hilfsorganisation I-India in Jaipur. Entwicklungshilfe ist ein Wort, das jedem geläufig und doch gleichzeitig so schwammig ist, das sich Niemand etwas Exaktes darunter vorstellen kann. So betrat ich dann auch mit einem etwas mulmigen Gefühl der Ungewissheit wegen das Büro meines Arbeitgebers, Prabhakar Goshwami. Ich wusste bereits, dass er in den Slums aufgewachsen, sich hochgearbeitet und schließlich gemeinsam mit seiner Frau Abha, die selbst Waise war, die Organisation gegründet hatte. Doch nach einem herzlichen Empfang und dem ersten gemeinsamen Chai hatte sich der Großteil meiner Skepsis gelegt. Prabhakar und ich kamen darin überein, dass ich zunächst sämtliche Projekte I-Indias unter die Lupe nehmen würde, bevor ich mich für das für mich am geeignetste entschiede. Also lernte ich das Büro von Childline kennen, einer Art kostenfreier Telefonseelsorge für Kinder, die dort im Schnitt bis zu siebzig mal am Tag anrufen. Dort melden sie sich nicht nur, wenn sie Kummer haben, sondern häufig, wenn sie im Straßenverkehr verletzt worden sind und sich nun die Arztkosten nicht leisten können. Dann stellt ihnen I-India Medikamente und Blut, oder was sonst noch anfällt. Auch die Polizei nutzt die Rufnummer, um Kinder zu suchen oder Waisen zu vermitteln. Obwohl ich das Projekt sehr sinnvoll finde, konnte ich dort aufgrund meines schlechten Hindi leider nicht nützlich sein.
Damals gab es bereits zwei der vier Waisenhäuser I-Indias, in denen Waisen, Kinder mittelloser Eltern sowie leider viel zuviel missbrauchte, verkaufte und verheiratete Kinder ein neues Zuhause gefunden haben. Obwohl es mich bereits sehr reizte, mit diesen Kindern zu arbeiten, was ich später auch hauptsächlich tat, sah ich mir auch noch das Projekt der Schule auf Rädern an. Getreu dem Motto wenn die Kinder nicht zur Bildung kommen, kommt die Bildung eben zu den Kindern, fahren täglich zwei Schulbusse der Organisation durch die Armenviertel, halten an verschiedenen Punkten und unterrichten die dort lebenden Kinder. Der erste Tag, den ich mit diesem Bus mitfuhr, werde ich nie vergessen.
Es war heiß, wie immer und ich schwankte, ob ich mir mehr Sorgen um meine Wasserration oder um die Beschaffenheit des Busses, bei dessem Anblick jeder deutsche TÜV-Prüfer einen Herzinfarkt erlitten hätte, machen sollte. Der Busfahrer schien ein mürrischer Mann zu sein, der kein Wort Englisch verstand und der wegen mir einen zusätzlichen Weg zu fahren hatte, sprich früher aufstehen musste und später nach Hause kam. Weit freundlicher empfingen mich die zwei indischen Ladys des Busses, die Lehrerinnen, die ihr pädagogisches Geschick sofort demonstrierten, indem sie mich meinen Namen auf Hindi schreiben ließen. So ratterte der Bus dahin, durch immer gleich aussehende, belebte Straßen mit vielen Ständen, Straßengeschäften und Teestuben. Genau wie in diesen bunten Bilderbüchern für Kinder, auf denen auf einer Seite wirklich auf jede Stelle etwas abgebildet ist, so dass die Kinder sich ewig damit aufhalten können, neue Dinge zu entdecken. So ist Indien. Alles passiert auf einmal zur gleichen Zeit am selben Ort. Anfangs sind abends die Augen von der Reizüberflutung so müde, dass man sie kaum offen halten kann. Es gab also viel zu sehen und ich merkte erst, dass wir an unserem ersten Haltepunkt angekommen waren, als der Bus bereits stand.
Plötzlich rannten Kinder aus allen Himmelsrichtungen auf den Bus zu. Sie kamen von überall her, krochen scheinbar aus dem Nichts hervor. Es waren so viele und ich konnte nicht schnell genug gucken, um auszumachen, woher sie wirklich kamen. Mich erinnerte das an die Verfilmung von Erich Kästners „Emil und die Detektive“, nur dass diese Kinder etwas anders aussahen. Sie waren alle dunkelhäutig, hatten diese wunderschönen erdbraunen Augen und ein in Marmor gemeißeltes Lächeln. Obwohl ihre Haare teilweise sehr staubig und verfilzt waren, konnte ich erkennen, wie stark und seidig es von Natur aus war. Ihre Kleidung war, wenn vorhanden, dann dreckig und zerschlissen. Keine Schuhe. Nichts passte wirklich und alles war irgendwo notdürftig ausgebessert. Auch die Haut der Kinder war dreckig, die Nasen rotzig und der Gestank mal wieder Atem verschlagend. Im Schlepptau der Kinder befand sich ein schwarzes Meer nerviger Fliegen, welche es sich auf dem Schmutz gemütlich machten und die Kinder selbst dann nicht mehr stören konnten, wenn sie ihnen auf der Nase rumtanzten. Mich machten sie wahnsinnig.
Die Kinder waren im Schnitt schätzungsweise sechs Jahre alt. Viele Mädchen hatten Geschwister dabei, die noch Säuglinge waren.
Sekunden später hatten die Kinder den Bus erobert. Sie saßen und standen, wo es nur ging, und auch da, wo es eigentlich nicht ging. Ich hatte mindestens drei auf meinem Schoß, als der Bus sich wieder in Bewegung setzte. Er hielt nur ein paar hundert Meter weiter, so dass die Kinder eigentlich auch zu Fuß hätten laufen können. Aber die Fahrt im Bus war für sie etwas ganz besonderes, etwas, wozu sie sonst nie die Möglichkeit hatten. Und der mürrische Fahrer, der mir plötzlich viel netter erschien, wusste das. Nun wurden Schiefertafeln heraus gekramt und an die regelmäßig erscheinenden Schüler kleine Übungshefte verteilt. Es galt schreiben und lesen zu lernen. Buchstabe für Buchstabe. An diesem Tag brachte ich einigen Kindern die englischen Buchstaben B und G bei. B und G – mein Geschenk an die Welt? Ein Millionstel des Tropfens auf den heißen Stein! Nach einer guten Stunde, einer Portion Reis und Medizin für alle und natürlich einigen fröhlichen Abschiedsliedern später, fuhren wir weiter zum nächsten Haltepunkt.
So entfernten wir uns immer mehr vom Zentrum der Stadt, in der große Mauern die Armenviertel vor den Augen der restlichen Bevölkerung verbergen. Aus den Augen aus dem Sinn scheint auch in Indien zu funktionieren. Darum wurde auch ein Großteil der Slums vor die Grenzen der Stadt ausgelagert. So sind die Zeltslums entstanden, denen es nicht nur an Anbindung, medizinischen Einrichtungen oder Geschäften mangelt, sondern in denen es keine Wasseranschlüsse gibt! Die dort lebenden Menschen sind darauf angewiesen, dass ihnen Hilfsorganisationen wie I-India den lebensnotwendigen Stoff bringen. Das Wasser wird selten zum Waschen verwendet, dafür ist es zu kostbar. Längst hat der Wüstensand sich in jede mögliche Ritze gedrängelt, hat der Staub jede Stofffaser, jede Pore eingenommen. Die Kinder sind viel dreckiger, die Haare sandig und auf der Haut sind oft Ekzeme zu sehen. Ich sehe wie eine kleine, schwarze Fliege auf einem solchen Ekzem eines Mädchens, mit einem bildschönen Gesicht, herum krabbelt, hinein kriecht und nicht mehr hinauskommt.
Als der Containerwagen mit dem Wasser kommt, rennen die Menschen mit dreckigen Behältern aller Formen dorthin. Die I-India-Mitarbeiter verteilen das Wasser mit einem Schlauch und die Kinder tanzen in den daneben fallenden Tropfen. Regen in der Wüste. Die Freude ist groß. Der Container kommt nicht täglich, die Menschen müssen sich das Wasser gut einteilen. Ein Europäer verbraucht im Durchschnitt 172 Liter Trinkwasser pro Tag – durch die Klospülung.
Das war mein erster Arbeitstag in den Slums mit diesen unglaublich fröhlichen Kindern. Als ich dann ziemlich k.o. kurz vor meiner Haustür um die Ecke bog, konnte ich den Müllhaufen schon riechen, bevor ich ihn sah. Es dämmerte gerade, aber den ganzen Tag hatte die Sonne erbarmungslos auf dieses Konglomerat von Blütenblättern, Essensresten, Kuhmist und Fäkalien geschienen. Der Gestank war unglaublich. In der Mitte stand ein kleiner vielleicht achtjähriger Junge, fast nackt in zerschlissener Hose, der den Berg durchsuchte. Schließlich fand er ein verschimmeltes Stückchen indischen Brotes – die Freude auf seinem Gesicht, der Unglaube etwas Essbares in der Hand zu halten und schließlich wie er davon abbeißt, während ich wegen des Gestanks noch gegen meinen Brechreiz kämpfe. Nie werde ich dieses Bild vergessen.
Julianews - 12. Dez, 15:02