6. Sids goldener Käfig und Hitler

Juliane Kruppke schrieb am 05.10.05 11:31:11:

Auf euch ist echt Verlass!
Danke fuer die 13 netten mails, die mir heute den Tag
versuesst haben. Ich bin ein Haustier geworden.
Derzeitig haenge ich in Sids Wohnung rum und habe
nichts zu tun. Er schlaeft staendig oder spielt
Counter Strike. Sid ist der AIESECER bei dem ich zur
Zeit noch untergebracht bin. An euren emalis konnte
ich erkennen, dass ihr grad keine richtige Einschaetzung ueber mein Leben habt. Ums kurz zu
sagen: Langeweile! Noch kuerzer: Gaehn!! Darum heute
der Exkurs Sid, bevor es weiter mit dem Zug in
Richtung Jaipur geht, wo ich wohl die naechsten Monate
vebringen werden.

Sid:
Er sieht aus wie 19, ist er vielleicht auch. Darum
sehe ich ihm Vieles nach. Er ist nett, hilfsbereit und kindlich. Er erklaerte mir, dass er sich sein Leben nicht versauen will, indem er ueber ernste Themen nachdenkt. Er hat sich sexy Fotos von Hollywoodstars auf den Rechner gezogen und versteht nicht, warum er mich damit nicht beeindrucken kann. Sid will Spass und nie erwachen werden. Seine Lebensziele:
Partys, viel
Geld, ein grosses Haus und eine schoene (Haus-)Frau.
Schoenheit zaehlt weitaus mehr als Intelligenz.
Materialistisch? Offensichtlich! Aber fast
verstaendlich in dieser Gesellschaft, in der man jeden Tag sieht, was einem auf der andere Seite des
Geldbeutels erwartet. Als Frau wuerde ich hier auch
zusehen, woher ich schnellsmoeglichst den roten Punkt
auf meiner Stirn herbekomme, sprich heiraten, damit
mich die Maenner in Ruhe lassen. An alle deutschen
Maenner: Man habt ihr an Wertung bei mir gewonnen...
Siddharth ist ein Stubenhocker, Computerspieler,
Mainstream-Musik-Hoerer, Markenklamottenschaetzer und
Muttersoehnchen.
Letzteres scheint fuer Indien typisch. Die meisten
Studis wohnen noch zu Hause, haben einen Zapfenstreich und sind total verwoehnt. Sie koennen ihre Waesche nicht alleine waschen, aber sind super im Befehle erteilen an die Haushaelterin, die nicht am Tisch sitzen darf und auf dem Boden in der Stube
schlaeft...Leider spricht sie nur Hindi, denn mit ihr
haette ich gerne mal geplaudert! Da Sids Vater oft
geschaeftlich unterwegs ist, schlaeft Sid meistens mit bei seiner Mutter im Bett...
Da hocke ich also den ganzen Tag in seiner Bude. Ein
goldener Kaefig. Ventilatoren und Ruhe, waehrend jeder Weg allein nach draussen ein Abenteuer und anstrengend ist. Allein gehe ich nicht so gern raus, aber zur Zeit gehe ich vor langer Weile die Waende hoch, da das Praktikum von Christine, der Regensburgerin, die auch dort wohnt, bereits angefangen hat. Gemeinsam mit ihr habe ich mir hier Vieles angeschaut.
Wie z.B. den Amber-Palace. Das nenne ich mal einen
Palast. Dort auch: Waende mit Guckloechern fuer die
Hofdamen. Damit sie niemenad sah, aber sie trotzdem am Strassentreiben teilhaben konnten. Auch ein goldener Kaefig. Mein Guckloch ist ein Geschenk von Uta...Danke an dich! Ich lerne Indien gemeinsam mit Salman Rushdie und den Mitternachtskindern eingesperrt in mein kleines Zimmer kennen. Wenn das so weiter geht, brauche ich fuer das Buch nur eine Woche.

Meine Hoffnung: AIESEC. Zum einen fuer Sid, der
vielleicht durch den Einfluss anderer Kulturen und
eigener Reisen seinen Horizont erweitert und einen
Wertewandel erreicht und zum anderen fuer mich. In
Jaipur haben die AIESECER Traineehouses gemietet. Also ganze Etagen oder Haeuser fuer die Prakikanten, junge Menschen aus der ganzen Welt. Die gleichen Probleme, neue Freunde, Gemeinschaft, Partys. Heute abend ist ein Traineedinner. Jeden Mittwoch gehen die Trainees zusammen in ein anderes Restaurant. Endlich andere Menschen. Erachsenere als Sid, der nicht versteht, warum es wichtig ist, ueber Politk informiert zu sein.
Leider hat er (verstaendlicherweise :)) einen Narren
an mir gefressen und wuerde Christine und mich gern
behalten...als schoene Haustiere und Rufabfreunde in
seinem Haus. Bald kommt seine Mutter wieder und er
versteht nicht, warum ich lieber in ein Traineehaus
moechte, statt zu bleiben, wo ich umsorgt, bekocht
usw. werde. Kann es ihm auch schlecht sagen, ohne ihn
vor den Kopf zu stossen. Darum heute die Chance. Muss
mich irgendwie so super mit den anderen Trainees
verstehen, dass das als Argument zieht.
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Ach, und dann noch was ueber die Inder: Sie lieben
Hitler und ihnen das auszureden, ist vergebliche
Liebesmueh. Auf der Sightseeing-Tour will sich der
Vater der indischen Mitreisefamilie einschmeicheln,
lacht und sagt Germany, Hitler, Hitler. So laut, dass
sich mir die Gedaerme zusammenziehen. Es ist die
gaengige Meinung, dass Hitler ein grosser Fuehrer war, der das Land unter sich einigte (dann doch lieber ne grosse Koalition), der Wirtschaft zum Aufstieg verhalf, mit den Indern befreundet war (?) und sichdurchsetzen konnte. Nach vielen Diskussionen mit Indern, aus denen ich immer unverstanden und wuetend herausging, glaube ich zu verstehen, dass dieser Schwachsinn auf dem Klassendenken beruht. Daran glauben sie. Arier, eine Herrscherklasse. Warum nicht?

Wer in einer unteren Klasse ist, hat es nicht anders
verdient. Karma. Darum keine Revolution, kein
Aufbegehren des "Poebels". Darum Verstaendnis fuer
Hitler. Zum Kotzen!!

Was sonst noch? Inder haben eine coole Kopfbewegung
drauf. Ein Nicken nach rechts und links, das aussieht, als ware der Kopf nicht recht fest. Das bedeutet alles moegliche wie ja, vielleicht, o.k., wenn du meinst, und auf keinen falls heisst es nein. Aber wenn man einem Inder eine Ja-Nein-Frag stellt und bekommt als Antwort dieses Kopfzucken, dann macht einen das wahnsinnig. Die Inder empfinden die Deutschen dafuer als agressiv, geradeheraus, aber andersherum ist es auch kein Zuckerschlecken.

Indien aendert sich. Langsam, gaaanz langsam. Das
Fernsehen spiegelt eine Realitaet wieder, die es nicht gibt. Sexy Saris und westliche Kleidung. Die Maenner sehen das gern, aber nicht an ihren Frauen. Ich verstecke meinen Koerper in weiten und viel zu warmen Klamotten, sehne den Winter herbei (es werden bis zu 10 Grad) und werde trotzdem staendig angmacht – weil ich so hell bin. Was ich sonst echt noch niemlas zu hoeren gekriegt habe. Sonst gelte ich immer als dunkel. Immerschon. Und nun das Kontrastprogramm. In Indien steht nunmal alles aufm Kopp.

Das wars erstmal von heute. Danke nochmal fuer die
tollen mails und dass euch scheinbar die Laenge der
Texte nicht schockt und abschreckt.
Werde mich jetzt weiter langweilen. Plane fuer die
naechsten Tage aber einen Ausflug nach Pushkar (ein
heilger Ort) und einen zum Schmuckmarkt. Habe blos
gerade keine Nerven fuer diese Maenneransammlungen.
Hier kommen uebrigens laut Rikschafahrer 250 Menschen
auf einen Quadratkilometer...
Ich vermisse euch. Schreibt mir, von dem Leben im
weitentfernten Deutschland, von Heizungen,
Hausarbeiten, Dokwoche und und und. Hab ein bissel
Heimweh. :(
Eure trotz allem reisebegeisterte Juliane

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